Der Goldschmied und Bildhauer Bruno Martinazzi (* 1923 Turin, † 2018 Ansedonia) zählt zu den herausragenden historischen Persönlichkeiten des internationalen Schmucks. Dabei war dieses Medium gar nicht seine erste Wahl. Musik und Malerei standen ihm ebenso nahe wie Literatur und Poesie. Derartige Neigungen wurden ihm quasi in die Wiege gelegt. 1923 in Turin geboren und einer angesehenen Familie entstammend, wandte er sich erst nach dem Studium der Chemie und einer Tätigkeit in der Textilbranche dem Goldschmieden zu. Daher zeugen die frühesten Werke von Einflüssen durch abstrakte Kunstrichtungen der Nachkriegszeit wie Tachismus und Informel.
Die eigentliche stilistische Destination und Handschrift erlangte Martinazzi jedoch in den 1960er Jahren mit dem Motiv des Körperfragments, das fortan sein OEuvre in den unterschiedlichsten Ausprägungen beherrscht. Es wurde zu seinem „Markenzeichen“: knappe Ausschnitte, ausdrucksstarke Details von Mund, Gesäß, Fuß, Hand, Auge, die nicht allein plastische Präsenz demonstrieren, sondern als metaphorisches Zeichen, als „Pars pro toto“ auf das Ganze, auf die Schöpfung, auf Werden und Vergehen verweisen, als deren Sinnbilder fungieren und von Martinazzi bewusst als solche inthronisiert wurden. Sein Streben galt stets einer Durchdringung der Materie, einer Verschmelzung von Schönheit und Geist, von Ästhetik und Philosophie.
Auf diesem Wege begleiteten ihn Schriften und Texte der abendländischen Geschichte, allen voran von Platon oder etwa Dante, Augustinus, Ovid, Petrarca, aber auch T.S. Eliot und Kant. Antike und Moderne verschmolzen in seiner Weltsicht zu einer tiefgründigen Textur, die Humanismus, kritische Ethik und Innovation in zeitgemäßen, schönen, ja verführerischen Schmuckstücken vereinen und veranschaulichen sollte. Martinazzi widmete sich der Lektüre nicht als systematischer Theoretiker, sondern als kreativer Sammler. In Korrespondenz zu seinen Quellen entwirft sein Schmuck gleichsam aphoristische Zitate. Da erscheinen etwa „Dio fanciullo“, „Afrodite“, „Angelo“, „Icaro“, „Narcisso“, „Kaos“, die an der Schaffung beteiligte Hand, die zerstörerische Faust. Martinazzi beschwört in Gold (und Stein) reduzierte, abstrahierende Bilder, die seinem Kosmos von Archetypen entspringen, formuliert Paraphrasen einer großen Schöpfungsidee. Nicht zufällig definierte Fritz Falk, ehemals Leiter des Schmuckmuseums Pforzheim, diesen singulären Schmuckkünstler als Humanisten, dem Ideal des Renaissancemenschen verpflichtet. Der Mensch steht zweifellos im Zentrum von Denken und Schaffen Martinazzis. Er pflegte eine Kultur und eine Haltung, die im 21. Jahrhundert antagonistisch zur frenetischen und medialen Gegenwart erscheinen. Doch reichen seine Statements im Schmuck an das Phänomen der Memes, der im Internet viral verbreiteten Bilder oder Videos, unserer Cyberwelt heran. Es handelt sich um eine Wiederkehr von Mythen und Symbolen, die ganze Zeitalter überlebten, neu interpretiert und umgewandelt werden und einfach in ihrer Beständigkeit und Brillanz unschlagbar sind.
In Deutschland wurde Martinazzi von Anfang an verehrt und geschätzt. Er erhielt Preise und Auszeichnungen, zum Beispiel 1965 den Bayerischen Staatspreis und 1987 den Ehrenring der Gesellschaft für Goldschmiedekunst. Seine Werke waren in zahlreichen Ausstellungen zu sehen. Die Ausstellung im Deutschen Goldschmiedehaus Hanau folgt in thematisch gegliederten Tableaus den Leitideen des Künstlers und gewährt mit über 100, zum Teil bislang ungesehenen Objekten aus dem Archivio Martinazzi in Turin, Einblicke in die Verzweigungen und Geheimnisse dieses zeitlos gültigen Schmuckschaffens. Zeichnungen und Zitate des Künstlers runden die umfangreiche Präsentation ab.
Ein Künstlerphilosoph im Schmuck
19. November 2021 – 13. Februar 2022
Eröffnung: 18. November 2021, 17 – 20 Uhr
Kuratiert von Ellen Maurer Zilioli
In Zusammenarbeit mit dem Archivio Martinazzi, Turin
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