Kurz vor den Sommerfeien bot sich der Klasse 10.4 des Grimmelshausen-Gymnasiums die Möglichkeit, mit Jürgen May, Olympiateilnehmer und ehemaliger Weltmeister im Bereich der Mittelstrecke, über seine spektakuläre Flucht aus der ehemaligen DDR ins Gespräch zu kommen.
Auch sein damaliger Fluchthelfer Karl Eyerkaufer, mehrfacher Bundesdeutscher Meister über die 1500 Meter und Landrat a.D., war als Gast anwesend. Beide berichteten von der politischen Situation in der DDR und den besonders auch im Sport sichtbar werdenden Anstrengungen der DDR-Staatsführung, das sozialistische System durch den Sport als dem Westen überlegen darzustellen. Dies hatte auch Auswirkungen auf ihre Freundschaft und führte letztendlich zur Flucht Jürgen Mays.
Zu Beginn der Veranstaltung führte Dr. René Wiese vom Zentrum deutsche Sportgeschichte aus Berlin das Publikum mit Hilfe der Präsentation „Sportlerfluchten aus der DDR“ in die besondere Ost-West-Problematik und die häufigen Fluchten von DDR-Sportlern in den Westen ein. Dabei wurden die Sportler – obwohl häufig in einer privilegierten Stellung innerhalb der DDR – von staatlicher Seite oft instrumentalisiert, um dem Staat DDR Anerkennung und Legitimation zu verschaffen. Auch der Kontakt mit westlichen Sportlern wurde in diesem Zusammenhang untersagt. Hinzu kamen die fehlenden Freiheiten innerhalb der SED-Diktatur und die unbefriedigenden Lebenssituationen im „Arbeiter- und Bauernstaat“ DDR, weshalb viele Sportler zum Entschluss kamen, in die Bundesrepublik zu fliehen. Häufig versuchten sie dies, trotz Überwachung durch die Staatssicherheit der DDR, während ihrer internationalen Wettkämpfe im Ausland. Anhand vieler Beispiele erläuterte René Wiese die perfiden Methoden des DDR-Staates, seine Sportler zu überwachen und zu kontrollieren. Auch Jürgen May war hiervon direkt betroffen.
Im Anschluss an die Präsentation moderierte René Wiese das Gespräch zwischen den beiden ehemaligen Sportlern und den Schülerinnen und Schülern. Lebhaft und detailliert erläuterten May und Eyerkaufer ihre Erfahrungen. Obwohl er „Sportler des Jahres“ in der DDR war, wurden ihm seine freundschaftlichen Kontakte zu seinem Konkurrenten Karl Eyerkaufer zum Verhängnis. Für Sportler im Osten war der Kontakt mit dem „Klassenfeind“ unerwünscht, und seine Freundschaft mit Karl Eyerkaufer wurde von den politisch beeinflussten Sportverbänden der DDR kritisch beobachtet. Er wurde ebenfalls durch die Staatssicherheit beobachtet und man warf ihm vor, Fluchtpläne zu haben. Der politische Druck auf ihn erhöhte sich im Laufe der Jahre immer mehr. Er wurde international durch die DDR gesperrt – vorgeschoben hatte man einen Verstoß gegen das Amateurstatut. Dies bestärkte Jürgen May darin, aus der DDR zu fliehen und einen Neuanfang in Westdeutschland zu starten.
Mit Hilfe seines Freundes Karl Eyerkaufer, zu dem auch während der Sperre der Kontakt nicht abgerissen war, gelang ihm und seiner Lebensgefährtin 1967 eine spektakuläre Flucht in den Westen – versteckt im Kotflügel eines amerikanischen Straßenkreuzers. Über Ungarn gelang ihnen die Flucht in die Bundesrepublik Deutschland. Dies schilderte Karl Eyerkaufer, der mit professionellen Fluchthelfern die Flucht organisiert hatte, spannend und unterhaltsam.
Die Klasse 10.4 hatte mit ihrer Geschichtslehrerin Tanja Fäth viele interessante Fragen vorbereitet. Im Austausch mit den Gästen waren besonders die persönliche Betroffenheit und die Frage nach dem „Neustart“ Mays nach der Flucht Themen, die die Schülerinnen und Schüler beschäftigen. Dabei stellte Jürgen May wiederholt fest, dass sein Freund ihn auch hier wieder bedingungslos unterstützt habe und ihm und seiner Frau eine Unterkunft und später auch ihre Jobs in der Kreisverwaltung und als Lehrerin ermöglichte. So sei aus der anfänglichen Sportkameradschaft eine Freundschaft fürs Leben geworden.
Den Schülerinnen und Schülern wurde durch das Zeitzeugengespräch eindrücklich veranschaulicht, wie schwierig das Leben in einer Diktatur wie der DDR war. Die Einschränkung der Freiheit und die totale Kontrolle des Staates in allen Lebensbereichen waren geschichtliche Aspekte, die ihnen vorher so nicht bekannt waren.
Von links: Dr. René Wiese, Karl Eyerkaufer und Jürgen May im Gespräch.