"Was mich erwartet, wusste ich nicht, als ich der Konzert-Einladung in die „Otto“ zusagte. Anlässlich des dritten Jahrestags des Attentats vom 19. Februar fand eine Aktionswoche mit verschiedenen Veranstaltungen statt, unter anderem auch ein Chorprojekt namens „Singing Beyond Borders". Neugierig machte mich zum einen der Name der Chorleiterin: Hayat Chaoui. Wie immer, wenn ich fremdklingende Namen höre, gehen die Schubladen in meinem Kopf auf und zu. Hayat bedeutet im Türkischen „Leben“. Ich fragte mich, ob die Chorleiterin wohl türkische Wurzeln hat. Und auch, was es mit dem Nachnamen auf sich hat. Neugierig machte mich zum anderen aber auch der Titel des Chorprojekts: „Singing beyond borders“ – Singen jenseits der Grenzen. Wie so oft bei Metaphern entstand auch diesmal ein Bild in meinem Kopf: Ich sah Menschen entlang einer Ländergrenze nebeneinander gereiht, Menschen, die alle singen.

Mit Fragen und Bildern im Kopf machte ich mich auf den Weg zur „Otto“ und saß schon um 11:15 Uhr als eine der Ersten in der Schulaula. Ich konnte beobachten, dass sich kurz vor 11:30 Uhr die Bühne füllte – mit großen und nicht ganz so großen Kindern und Jugendlichen, Jungs in Hoodys, Mädchen in kurzen T-Shirts oder in Pullovern, Kurzhaarige, Langhaarige, Mädchen mit aufwändig gestylten Frisuren und auch etliche mit Kopftüchern. Eine Vielfalt an Haar- und Hautfarben. Die sich füllende Bühne machte einmal mehr sichtbar, wie bunt Hanau ist. Unerwartet schnell wurden die Kinder und Jugendlichen still, als die Chorleiterin ein Handzeichen gab. Die zierliche Frau mit dunklen, gewellten, zu einem Dutt gebundenen Haaren und ockerfarbigem Kleid stand ein paar Meter entfernt von der Bühne und bewegte ihren Kopf und ihre Arme. Dass sie es mit nur ein paar Handgesten schaffte, die quirligen, miteinander sprechenden Kinder und Jugendlichen zur Ruhe zu bringen… schon das fand ich bewundernswert.

Denn es waren ja nicht fünf oder zehn, nicht zwanzig oder dreißig, sondern mehr als 100 Kinder und Jugendliche, die auf der Bühne und auf den Stufen standen. Schüler*innen aus allen Jahrgängen und Schulzweigen, mit unterschiedlichen Temperamenten und Fähigkeiten, hatten für dieses Konzert zusammen geprobt. Es braucht ein gutes „Händchen“, um so eine große Gruppe im Griff zu haben! Und dieses Talent hat Hayat Chaoui zweifelsohne. Die ausgebildete Sängerin arbeitet seit vielen Jahren als Chorleiterin. Dass sie den Weg aus Wuppertal, wo sie lebt und arbeitet, nach Hanau fand, ist einem Zufall zu verdanken: Sie ist eine gute Freundin der „Otto“-Lehrerin Janet Fuchs, mit der sie zusammen zunächst im HR-Kinderchor, später in einem Quartett sang.

An nur zwei Projekttagen studierte Hayat Chaoui - unter Mitwirkung und am Klavier begleitet von dem Musiklehrer und „Otto“-Chorleiter Stefan Weber - Lieder ein, zu denen wohl fast jeder und jede in diesem Chor einen Bezug hat. Um die Proben vorzubereiten, informierte sich die Musikpädagogin zuvor über die Sprachen, die in den Familien der Teilnehmenden gesprochen werden und wählte fürs gemeinsame Singen gezielt Lieder und Melodien aus, die jenseits kultureller und sprachlicher Grenzen bekannt sind. Wie wichtig es ist, Herkunftssprachen und kulturelle Elemente aus anderen Ländern in Schulprojekte einzubinden, war unübersehbar und unüberhörbar. Wie ich auf meinem Stuhl wippte und mitklatschte zu dem mir seit meiner Kindheit in der Türkei bekannten Lied „Üsküdara giderken“, merkte ich, wie sich mein Herz überschlug – aus Freude über das, was ich sah und hörte: Lieder auf Italienisch, Türkisch, Griechisch, Serbisch und in vielen anderen Sprachen, gesungen von rund 100 Schüler*innen. Einige von ihnen hatten sich sogar freiwillig für Solo-Auftritte gemeldet, ein paar andere hatte die Chorleiterin dazu motiviert.

Das erste Solo boten Lia und Linus, danach stellten sich im Wechsel Faran, Charlotte, Marina, Lina, Johanna, Aliya, Fatma, Saliha, Marinella, Natali, Maya, Abdelsamed, Mia, Vanessa, Rayan, Sedra und Anabella vor die Mikrofone. Sie sangen alle wunderbar, an eine der Stimmen erinnere ich mich ganz besonders: Es ist die Stimme der Schülerin, die auf Kurdisch sang. Das Chorprojekt bestätigt es einmal mehr das, was ich vom Soziologen Hartmut Rosa gelernt habe: wie wichtig es ist, gesehen, gehört, wahrgenommen zu werden; es fördert das positive Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen. Die Aktionswoche zum Jahrestag des 19. Februar stand unter das Motto "Vielfalt feiern" – und es wurde Wort gehalten. Mit anderen Gedanken als denen, mit denen ich die Aula betreten hatte, verließ ich die „Otto“: Es hat sich viel getan seit meiner Schulzeit. Auf die Idee, Lieder auf Türkisch oder in einer anderen Muttersprache von Schüler*innen ins Repertoire eines Schulkonzerts aufzunehmen, kamen Lehrkräfte vor 45 Jahren nicht. Damals hat es in diesem Land aber auch noch keine Musikpädagogin wie Hayat Chaoui gegeben, die marokkanische Wurzeln hat und wohl aus eigener Erfahrung auch weiß, dass für das gute Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft wichtig ist, Musik und kulturelle Traditionen aus anderen Ländern in den schulischen Alltag einzubeziehen."

Canan Topçu ist Journalistin und lebt in Hanau-Kesselstadt.

singingbeyonotto az


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