Bessere Pflege: Simmler schreibt an drei Bundesministerien

Leserbriefe
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Die Sozialdezernentin des Main-Kinzig-Kreises, Susanne Simmler (SPD), hat einen Offenen Brief an drei Bundesministerien mit Forderungen für eine bessere Pflege und eine verlässliche Finanzierung geschrieben.



"Sehr geehrte Frau Bundesministerin Giffey, sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn, sehr geehrter Herr Bundesminister Heil, als Erste Kreisbeigeordnete des größten Landkreises in Hessen (ca. 418.000 Einwohnerinnen und Einwohner) und gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzende des größten Anbieters von stationärer Pflege in unserem Landkreis ( ca. 1000 Bewohnerinnen und Bewohner) habe ich mich in den letzten Tagen sehr intensiv mit den Ergebnissen und Vorschlägen der Konzertierten Aktion Pflege auseinander gesetzt. ln diesen Tagen, in denen viel und von allen relevanten Gruppen über die Stärkung der Pflege gesprochen wird, ist es aus meiner Sicht notwendig einen kurzen Moment inne zu halten und sich bewusst zu werden, was es wirklich braucht, um Pflegebedürftigen, Pflegenden Angehörigen und Beschäftigten in der Pflege gerecht zu werden. Nicht zuträglich ist es, wenn fertige Konzepte vorgelegt werden, die ohne ein abgestimmtes und schlüssiges Finanzierungskonzept auskommen und somit die Ergebnisse der so wichtigen Konzertierten Aktion Pflege zu einem .. Ja-aber"-Papier machen. Ich halte es für richtig und wichtig, dass die Bundesregierung vertreten durch Sie nach einer langen Zeit, in der die Pflege, zwar in den Städten und Gemeinden, den Landkreisen mit Ihren Bürgerinnen und Bürgern schon immer in den kommunalen Kanon gehört hat, erkannt hat, dass es sich um ein immer drängenderes Thema auf Bundesebene handelt.

Wichtig als Ergebnis des vorgelegten Papiers aus Ihren Häusern ist, dass Themen gesetzt und Probleme aufgedeckt werden. Jeder einzelne Pflegebedürftige hat das Recht auf menschenwürdige Pflege und jeder Pflegende, ob familiär oder professionell hat ein Recht auf menschenwürdigen, angemessenen Umgang und auch Entlohnung. Es ist erstaunlich, dass wir alle- Gesellschaft und Politik- so lange gebraucht haben, bis sie die Brisanz des Themas erkannt haben. Und das, obwohl wenige Dinge so vorhersehbar waren und sind, wie die Notwendigkeit einer besseren Pflege, einer staatlichen Infrastruktur und eines flächendeckenden allgemeingültigen Tarifvertrages in der Pflege. All die von Ihnen nun vorgeschlagenen Neuerungen sind gut, aber längst nicht genug. Sie enden in der Praxis ausschließlich mit einem "Ja, richtig, aber. .. " Diese Situation ist- aus Sicht der kommunalen Ebene, aus Sicht der Betroffenen und deren Angehörigen, aus Sicht der Pflegenden- nicht befriedigend. Alle von Ihnen vorgelegten Vorschläge sind längst überfällig, aber vor allem beschreiben Sie notwendige Änderungen, die ohne einen grundlegenden Systemwechsel nicht oder aber nur auf dem Rücken der Pflegerinnen und Pfleger sowie der zu Pflegenden auskommen werden. Alleinig eine solidarische Finanzierung in die alle Beteiligten ihren Beitrag zahlen kann aus meiner Sicht dauerhaft die Finanzierungsproblematik und damit auch die inhaltlich von Ihnen angesprochenen Punkte lösen.

Die Konzertierte Aktion Pflege, die schon im letzten Jahr durch die von Ihnen verantworteten Bundesministerien ausgerufen wurde und die anschließend eingesetzten Arbeitsgruppen müssen als das betrachtet werden, was sie am Ende sind- ein Versuch, Flickschusterei an einem System zu betreiben, das am Ende nicht mehr funktionieren kann. Da ist zum Beispiel der Vorschlag eines Personalbemessungsinstrumentes für die Pflege, das für alle verbindlich gelten soll. Dies ist eine Forderung seit fast 30 Jahren aus der Pflege selbst. ln der Komplexität, aber vor allem in der angedachten Refinanzierung für die Anbieter von Pflege wird dies aber nur dazu führen, dass es weiter große Unterschiede in den einzelnen stationären Einrichtungen geben wird und die Bewohnerinnen und Bewohner zur Kasse gebeten werden müssen. Ebenso sieht es beispielsweise mit der Verbesserung der Bezahlung aus. Ein zentraler Punkt, um den Pflegeberuf überhaupt in unserer Gesellschaft zu einer Anerkennung zu führen. Aber auch hier scheitern die Vorschläge an fehlendem Mut das System der Pflegefinanzierung komplett zu erneuern. Denn bei jeder Veränderung in der Finanzierung, bei jeder weiteren Neuerung, jedem Mehr-Personal, jeder tarifvertragliehen Vereinbarung zahlen die Bewohnerinnen und Bewohner, die Angehörigen oder letztlich der Sozialhilfeträger die Steigerungen mit. Schon heute sind ca 1/3 aller Bewohnerinnen und Bewohner von stationärer Pflege Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger. Für mich als Sozialpolitikerin auf kommunaler Ebene ein nur schwer erträglicher Zustand, denn er zeigt die Fehlentwicklungen eines Systems, das in besonderen Situationen Menschen nicht stigmatisieren sollte, sondern helfen will.

Alle Vorschläge, die aus Berlin, aus den Arbeitsgruppen mit sicherlich vielen Fachleuten, Krankenkassen, Politikerinnen und Politikern, gekommen sind, sind ein Schritt in die richtige Richtung. Nämlich in die, dem Thema Pflege in unserer Gesellschaft überhaupt den Stellenwert zu geben, den es seit Jahrzehnten schon hätte haben müssen. Zu lange hat Gesellschaft und damit auch Politik auf allen Ebenen die Augen davor verschlossen, was prognostisch absehbar war und ist: eine immer älter werdende Gesellschaft mit immer technologisierteren Möglichkeiten und einer veränderten Familienstruktur braucht ein ebenso verändertes System des Kümmerns. Damit ist nicht nur das Kümmern um die Pflegebedürftigen gemeint, sondern genauso auch um die Pflegenden. Wir müssen uns - aufgrund von fehlenden sozialen Strukturen, einer nahezu komplett privatisierten Pflegeinfrastruktur und einer nur mangelhaften bzw. fehlerhaften Finanzierung von Pflegeweiterhin verlassen auf starke Strukturen vor Ort, in den Familien. Selbstverständlich kommt das auch oft den Wünschen der Pflegebedürftigen sehr nahe, die nur ungern gewohnte Umgebungen, familiäre Strukturen verlassen wollen, sehr nahe. Aber auch hier darf es nicht weiter gehen mit dem Credo "das wird schon irgendwie gehen", denn das "Abschieben" der pflegerischen Aufgabe auf Familien und vorrangig die Frauen, wie das über Jahrzehnte hinweg, im stillschweigenden angenommenen Konsens funktioniert hat, ist nicht mehr möglich. Nun gibt es aber viele Menschen, die ihre Angehörigen selbst pflegen wollen. Hier muss mehr getan werden. Die Kindererziehung kann ein Vorbild sein, in der die Erziehungsperson für jedes Kind die Rentenanwartschaften erhält. Pflege wirkt sich meist weniger rentensteigernd aus. Die konstruierten Fälle, in denen das möglich ist, kommen in der Realität nur im Promille Bereich vor.

Vor allem auch die Beschäftigten in der Pflege gehören in den Fokus der Betrachtung. Und zwar nicht nur aus dem Defizit der fehlenden Fachkräfte heraus. Denn beruflich Pflegende sind keine Bittsteller, sondern qualifizierte, leistungsfähige und leistungsbereite Fachkräfte. Sie erbringen Tag für Tag eine unverzichtbare Dienstleistung für die Gesellschaft - die Bevölkerung weiß und schätzt das auch. Pflegefachpersonen haben allen Grund, selbstbewusst aufzutreten und auf Augenhöhe Forderungen zu stellen in der Erwartung, dass man ihnen endlich angemessene Arbeitsbedingungen schafft. Arbeitgeber und Politiker tun gut daran, dies ernst zu nehmen. Es werden in der Pflege zu Recht Kompetenz und umfassendes Wissen erwartet. Die Pflegenden setzen ihr Können dafür ein, diesem Anspruch gerecht zu werden. Aber auch der Arbeitsplatz muss diesen hohen Qualitätsstandards entsprechen. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, dass die Arbeit mit guten Arbeitsbedingungen und angemessener Vergütung gewürdigt wird. Aus all diesen Gründen - ist das Thema Pflege KEIN singuläres Thema von Betroffenen, Beschäftigten in der Pflege oder der Politik. Es ist DAS Zukunftsthema in unserer Gesellschaft.

Dafür, dass das so ist, ist der Mut die Aufgabe wirklich auch anzugehen zu klein. Jetzt wird sicherlich die Frage kommen: Können wir uns das leisten? Die Antwort lautet: Wir müssen uns das leisten! Wir müssen uns das leisten wollen in unserem eigenen Interesse. Und wir können uns das auch leisten. Im Grunde gäbe es mehrere Möglichkeiten: Die Steigerung der Beitragssätze und die Umstellung der Pflegeversicherung zu einer Vollfinanzierung, die Erhöhung der Steuertast für diesen Bereich oder eben den echten Systemwechsel in Form einer solidarischen Finanzierung eines Pflegesystems, in das alle einzahlen. Wenn die Zeiten schlecht sind, sind Systemwechsel nahezu unmöglich. Deswegen ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt mutig zu sein und im Sinne der Pflegebedürftigen, der Pflegenden, der Menschen zu entscheiden. Zudem sind die Rücklagen der Krankenkassen derzeit prall gefüllt. Auch hier muss es eine höhere Beteiligung geben - eben einen echten SystemwechseL Eine echte Konzertierte Aktion Pflege würde die Zeit JETZT nutzen, den Systemwechsel einfach umzusetzen, um eine bessere Pflege zu erreichen.

Als kommunale Ebene, diees-auch in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten- geschafft hat kommunale soziale Infrastruktur im Pflegebereich zu erhalten und Verantwortung zu übernehmen, kann ich den Spagat zwischen betriebswirtschaftliehen Anforderungen und pflegerischen Notwendigkeiten gut nach vollziehen. Als Main-Kinzig-Kreis hat die Politik seit vielen Jahren immer wieder im Sinne der Pflegebedürftigen aber auch der Pflegenden Entscheidungen getroffen. Aber am Ende steht eben immer die Frage: Wie geht unsere Gesellschaft mit den Menschen um, die unsere Hilfe, die Pflege- ob familiär, ambulant oder stationär benötigen, um. Wie geht sie mit den Menschen um, die wir begeistern wollen für einen schwierigen Beruf, der psychisch und physisch anstrengend ist und wie geht sie mit den Menschen um, die einen physisch und psychisch belastenden Beruf nachgehen. Neben all den Herausforderungen, die unsere Gesellschaft national und international zu bewältigen hat, ist die Pflege ein ganz persönliches Thema, das uns alle angeht. Deswegen ist es gut, dass wir diskutieren.

Die Forderungen konkret sind:
• Umsetzung aller im Konzept "Konzertierte Aktion Pflege" vorgestellten Verbesserungen für die Pflege.
• Gleichzeitiger Systemwechsel für die Pflege zu einem solidarisch finanzierten System unter Beteiligung aller. Einhergehend damit ist die Abkehr von dem System der "Teilkasko"-Pflegeversicherung, in dem alle Kosten zu einem erheblichen Teil von den Pflegebedürftigen, den Angehörigen oder den Sozialhilfeträgern aufgebracht werden müssen. Nur so kann verhindert werden, dass im Alter immer mehr Menschen staatliche Unterstützung beantragen müssen. Neben dem finanziellen Aspekt hat dies auch etwas mit Würdigung von Lebensleistungen zu tun.
• Einführung eines flächendeckenden und allgemeingültigen Tarifvertrages, der für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der ambulanten und stationären Pflege Transparenz, Verlässlichkeit und gute Rahmenbedingungen bietet.

Sehr geehrte Frau Bundesministerin Giffey, sehr geehrter Herr Bundesminister Heil, sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn, verstehen Sie meine Zeilen als starkes Plädoyer für mehr Mut. Ich möchte als Kommunalpolitikerin den Finger genau in die Wunde legen, die derzeit noch offen ist- die Finanzierungsfrage von lauter guten Vorschlägen. Wir müssen gemeinsam- alle Ebenen der Verantwortung- in einer Konzertierten Aktion für die Pflege, die zu Pflegenden und die Pflegenden mehr Mut beweisen, sonst werden wir die Aufgabe nicht lösen können und sonst kommt außer guten Vorschlägen keine Verbesserung wirklich an."

Susanne Simmler (SPD)
1. Kreisbeigeordnete/Sozialdezernentin
Main-Kinzig-Kreis

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