"Im jüngsten Bericht des IPCC wird der Weltgemeinschaft ein verheerendes Zeugnis ausgestellt. Mehr noch: Die Experten stellen in Aussicht, dass wir spätestens 2031 Klimaneutralität erreichen müssen, um zumindest noch eine 50:50-Chance zu haben, die im Pariser Klimaschutzabkommen festgelegte 1,5-Grad-Grenze nicht zu überschreiten. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass bei sehr vielen Menschen noch nicht angekommen ist, was das bedeutet.

Zum einen ist festzuhalten, dass die Fachleute hier in der Vergangenheit bereits Fehleinschätzungen einräumen mussten: Ihre bisherigen Modelle waren leider noch zu optimistisch. Soll heißen: Die Entwicklungen, die aktuell global zu beobachten sind, sind fataler als noch die pessimistischsten Prognosen. Der Meeresspiegel steigt schneller, Ökosysteme reagieren empfindlicher, Rückkopplungen fallen stärker aus. Zum anderen muss man sich vor Augen halten, was 1,5 bzw. 2 Grad eigentlich bedeuten: Überflutungen an Küsten und Flüssen, ebenso Hitzewellen und Missernten werden häufiger und heftiger. Damit verbunden folgen entsprechende Wanderungsbewegungen von Mensch und Tier. Für größere Pflanzen sieht es dabei eher düster aus: Gerade Bäume wachsen langsam und können ihre Samen nur lokal verteilen. Ihre Anpassungsfähigkeit ist auf Klimaveränderungen in Jahrtausenden ausgelegt, nicht in Jahrzehnten.

Außerdem kann man nicht genug betonen, dass die genannten Temperaturanstiege Mittelwerte darstellen, die im jährlichen Verlauf immer wieder vereinzelte, wesentlich höhere Luft- und Wassertemperaturen bedeuten. Den Begriff „Feuchtkugeltemperatur“ sollten wir alle in unserem Vokabular verinnerlichen. Gemeint ist die tiefste Temperatur, die ein Körper durch Verdunstungskühlung erreichen kann. Nun ist der Körper eines jeden Warmblüters aber darauf angewiesen, überschüssige Wärme abzuführen. Heißt für uns Menschen: Eine FKT ab 35 °C (wie z.B. bei 40 °C Lufttemperatur und 70% rel. Luftfeuchtigkeit) ist definitiv tödlich. Egal wie alt oder gesund man ist. Da hilft kein Schatten, kein Trinken und kein Aufenthalt im (bei diesen Bedingungen badewannen-warmen) Wasser. Wer keine Klimaanlage Zuhause hat (die dann hoffentlich nicht ausfällt) und sich dort für Stunden und Tage verbarrikadiert, kann unter diesen Bedingungen seine Körperwärme nicht mehr abführen und stirbt qualvoll. Für uns in Mittel- und Nordeuropa sind diese Bedingung auch bei 1,5 Grad noch vergleichsweise selten. Im Süden sieht das ganz anders aus. Die Rede ist vor allem von Indien, Vorderasien und weiten Teilen Afrikas, aber auch Südeuropa. Erwartet irgendjemand ernsthaft, dass diese Leute in der Hitze hocken bleiben und sterben? Wir reden von Milliarden Menschen die nach Norden wandern werden. Zusätzlich zu den Abermillionen, die von den Küsten ins Landesinnere wandern, weil ihre Heimat überschwemmt wurde.

Gleichzeitig steht unsere Landwirtschaft unter zunehmendem Stress durch Hitze und Schädlinge und auch die europäischen Kornkammern können sich dem nicht entziehen. Hinzu kommt der (von Klimaskeptiker gerne als Argument missbrauchte) CO2-Düngeeffekt, der in dieser Konstellation das Dilemma verschärft. Für das Überleben der Pflanze bringt die CO2-Düngung nur etwas, wenn sie nicht am Trockenheits-Stress eingeht – so wie auch ein Kilo Trockennahrung einem Verdurstenden keine Hilfe bietet. Außerdem lagern die so „gedüngten“ Pflanzen zwar mehr Kohlenstoff ein, aber dabei sinkt eben auch der Anteil anderer essentieller Nährstoffe, so dass wir künftig mehr Nahrungspflanzen brauchen werden, um keine Mangelerkrankungen zu erleiden.

Kurz gesagt: Wir – und vor allem unsere Kinder – werden wieder lernen, was es heißt zu hungern. Aktuell können wir es uns noch „leisten“, erhebliche Anteile unserer Ernten als Biokraftstoffe und Tierfutter umzusetzen. Ob wir angesichts der aktuellen Entwicklungen in zwanzig Jahren selbst noch genug zu Essen haben werden, steht zu bezweifeln.

Jeder Einzelne dieser Faktoren hat das Potential eine vernetzte und von Technologien abhängige Gesellschaft hart zu treffen und ins Taumeln zu bringen. In der Summe ist ein zivilisatorischer Zusammenbruch, wie ihn die Menschheit zuletzt mit dem Verfall des römischen Reiches erlebt hat, kein unwahrscheinliches Szenario.
Wohlgemerkt: Ich beziehe mich bislang nur auf die Folgen von maximal 2 Grad Erwärmung. Mit ihrem bisherigen Verhalten und (Nicht-)Handeln steuert unsere Spezies allerdings aktuell nach wie vor nahezu ungebremst auf 3 Grad und mehr zu! Also in Temperaturbereiche, wo aus den zuvor genannten Wahrscheinlichkeiten Gewissheiten werden und weitere Extreme drohen. (Wie z.B. regelmäßig kritische Feuchtkugeltemperaturen auch in unseren Breitengraden.)

Und was machen wir vor dem Hintergrund dieses Pulverfasses? Wir diskutieren! Über die Schulpflicht von Kindern und Jugendlichen, die sich genötigt sehen auf die Straße zu gehen, um uns wach zu rütteln. Über Tempolimits und CO2-Preise. Über Arbeitsplätze und Kosten. Über Wirtschaftsstandorte und über jedes einzelne Windrad. Wir diskutieren über all diese Dinge, als ob wir eine Wahl hätten! Als ob das Tempo 130, das wir heute blockieren, nicht spätestens zum Ende des Jahrzehnts ohnehin kommt – dann als Tempo 100, um noch einen halbwegs ähnlichen Effekt erzielen zu können. Als ob die CO2-Steuer nicht ohnehin (wenngleich viel zu langsam) steigt – weil sie es muss – und diese Anstiegskurve umso steiler werden wird, je mehr wir es hinauszögern die Preise rechtzeitig auf ein angemessenes Maß anzuheben. Als ob die Windräder, die wir heute diskutieren, nicht in spätestens zehn Jahren ohnehin gebaut werden müssen, so dass wir dann nichts weiter erreicht haben, als die dringend nötige Emissionsreduktion um eine weitere kritische Dekade zu verzögern. Womit wir letztlich (neben uns selbst) leider auch dem Wald, den wir eigentlich schützen wollen, erhebliche Schäden zufügen. Schäden, die in einer vollkommen anderen Größenordnung liegen, als die Eingriffe, die mit dem Bau dieser Anlagen einhergehen.

Den Wald – oder besser Forst – sucht sich auch niemand freiwillig als Standort aus. Aber auf der Suche nach ausreichenden Windstärken und unter Berücksichtigung gesetzlicher Mindestabstände zu Siedlungen bleiben kaum Alternativen zu den zumeist bewaldeten Höhenlagen. Der Platz an der viel gepriesenen Küste ist einerseits begrenzt und andererseits wäre es nicht allzu clever, die Stromversorgung eines ganzen Landes vom lokalen Wetter einer einzelnen Region abhängig zu machen. Dezentral verteilt und durch Kombination von Wind- und Solarenergie lässt sich das Ausfallrisiko laut DWD um mehr als 90% (bei inländischer Verteilung) bzw.  99% (bei europaweiter Verteilung) reduzieren.

Warum führen wir diese Diskussionen? Ich möchte den Windkraftgegnern weder unlautere Absichten noch Ignoranz unterstellen. Ich denke, dass ihre Haltung auf absolut nachvollziehbaren und heren Motiven beruht und ihre Positionen durchaus überlegt sind. Aber ich fürchte, dass sie sich – wie auch leider noch weite Teile unserer Gesellschaft – einer Illusion hingeben. Der Illusion, dass wir eine Wahl hätten. Der Illusion, dass es nicht darum ginge, einen drohenden Kataklysmus abzuwenden. Der Begriff des „klimaresistenten Mischwalds“, der derzeit im Wahlkampf um den Bürgerentscheid oft bemüht wird, versinnbildlicht diese Illusion: Kein Organismus ist resistent gegen die Physik steigender Temperaturen! Er kann sich bis zu einem gewissen (sehr eng abgesteckten) Grad anpassen, abwandern oder sterben. Das gilt für den Wald und seine Bewohner ebenso wie für uns selbst.

Die Bedrohung ist existentiell und damit maximal beängstigend. Es ist ein natürlicher Reflex, diese überwältigende Gefahr nicht wahrhaben zu wollen. Das kann und möchte ich auch niemanden verübeln. Aber wir müssen endlich angemessen und mit dem erforderlichen Mut zur Veränderung reagieren anstatt weiter in Schockstarre die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen."

Torsten Schädel
Freigericht

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