Vier Gaul-Plastiken reisen in die Schweiz

Hanau
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Ein Elefant, zwei Bärenkinder und eine Löwin reisen gemeinsam nach Bern – was seltsam klingt, geschieht derzeit tatsächlich: Gemeint sind Tierplastiken des in Großauheim geborenen Bildhauers August Gaul (1869-1921), die ab dem 4. Juni 2021 bis zum 24. Oktober 2021 im Kunstmuseum Bern zu sehen sein werden.



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Die Städtischen Museen Hanau leihen dem Kunstmuseum Bern vier ihrer bedeutendsten Werke zusammen mit Grafiken und Skizzenbüchern des Künstlers. Hanau ist damit wichtiger Leihgeber bei einer der größten international beachteten Ausstellungen nach der Pandemiepause in Europa. Die Ausstellung "August Gaul. Moderne Tiere" des Kunstmuseum Bern betrachtet Gauls Werke unter einer kulturhistorischen Perspektive und zieht Verbindungen zu heutigen Debatten um das Mensch-Tier-Verhältnis. "Wir sind stolz auf die Anfrage aus Bern und darauf ein Teil dieser bemerkenswerten Ausstellung zu sein. Damit werden hoffentlich auch die internationalen Scheinwerfer auf die bedeutende Hanauer Sammlung geworfen, so dass zukünftig neue Besucher*innen ihren Weg in den Geburtsort Gauls finden", so Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD).

Aus dem Museum Großauheim wandern mit den Bronze-Plastiken "Große stehende Löwin" (1899-1900), "Zwei sitzende junge Bären" (1903/04), "Trompetender Elefant" (1904/05) und einem Gipsmodell der Plastik "Ausschlagender Esel" (um 1911) vier der bedeutendsten Werke der Städtischen Museen Hanau als Leihgaben für die Dauer der Ausstellung nach Bern. Mit der lebensgroßen Löwin gelang August Gaul 1901 der künstlerische Durchbruch auf der dritten Ausstellung der Berliner Secession, zu deren Gründungsmitgliedern er 1898 zählte. Auch einige Grafiken und Skizzenbücher Gauls finden den Weg in die Schweiz. August Gaul gilt als bedeutendster deutscher Tierbildner der Moderne. Das Kunstmuseum Bern – neben dem Kunsthaus Zürich wichtigstes Kunstmuseum der Schweiz – dem mit der Sammlung Zwillenberg, Nachfahren der Kaufhaus-Dynastie Tietz, vor acht Jahren eine der größten und hochkarätigsten Gaul-Sammlungen übergeben wurde, widmet dem Wegbereiter der modernen Tierplastik nun in seinem 100. Todesjahr eine Ausstellung, in der sein Werk erstmals kulturhistorisch verortet wird.

In der Ankündigung der Ausstellung heißt es: Wir handeln mit Tieren, nehmen sie als Nahrung zu uns, verarbeiten sie zu Kleidungsstücken oder lassen sie als Haustiere Teil unserer Familien werden. Die menschliche Kultur und Entwicklung ist ohne Tiere nicht vorstellbar. Eine besondere Zäsur im Mensch-Tier-Verhältnis, die fast alle gesellschaftlichen Bereiche betraf, ereignete sich um 1900: Nutztiere verschwanden aus dem Stadtraum, gleichzeitig zogen Haustiere in bürgerliche Wohnräume ein, die Tierschutz- und Vegetarier-Bewegungen wurden in Reaktion auf die Industrialisierung der Fleischproduktion und die Einführung des Tierversuchs gegründet. Mit der Popularisierung der Evolutionstheorie verbreitete sich die Einsicht in die verwandtschaftliche Nähe von Mensch und Tier. Dass sich diese Verwandtschaft nicht nur äußerlich, sondern auch im Hinblick auf «das Seelische», also im Empfinden und Ausdruck von Emotionen wie Trauer, Freude, Wut oder Angst, zeigte, begründet bis heute unser Interesse am Tier. Als Übertragungswirte globaler Pandemien, Betroffene vom Artensterben oder Beitragende zum Klimawandel rücken Tiere in jüngster Zeit verstärkt in unser aller Bewusstsein. Diese Aktualität nimmt das Kunstmuseum Bern zum Anlass, das Werk des Bildhauers August Gaul unter dem Gesichtspunkt heutiger Debatten neu zu betrachten.

Die Berner Ausstellung zeigt in sieben Kapiteln verschiedene Aspekte des Mensch-Tier-Verhältnisses um 1900. Die Themen reichen von der Gründung zoologischer Gärten und Naturkundemuseen als Abbilder der wissenschaftlichen Neuordnung und modernen Bezwingung der Natur über die Einführung des bürgerlichen Haustiers und die gleichzeitig einsetzenden Tierschutz- und Vegetarier-Bewegungen, die Popularisierung der Evolutionstheorie und die damit einhergehende Wahrnehmung von Tieren als intelligente und fühlende Wesen bis hin zu Verhaltensforschung und Biotechnik. Die Ausstellung fragt danach, wie sich die grundlegenden Veränderungen im Mensch-Tier-Verhältnis auf die Entstehung und Rezeption von Gauls Werk ausgewirkt haben und verknüpft diese Inhalte mit aktuellen Diskursen.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Hirmer-Verlag München, 29,90 Euro. Weitere Informationen zur Ausstellung des Kunstmuseum Bern: www.kunstmuseumbern.ch Weitere Informationen zur Jubiläumsausstellung "August Gaul – Weil es mich freut" im Museum Großauheim: www.museen-hanau.de Museum Großauheim -Kunst und Industriegeschichte Pfortenwingert 4, 63457 Hanau www.museen-hanau.de

Hintergrund: "Ich will gar nicht die Natur pedantisch imitieren, sondern das Typische und ihren seelischen Kern festhalten. Vor allem will ich eine plastische Arbeit machen. (…) Was mich bei den Tieren anzieht, ist ganz wesentlich künstlerischer Art. Ich mache Tiere, weil es mich freut." antwortete der gebürtige Großauheimer Künstler August Gaul, als er 1917 vom Schriftsteller Franz Servaes in seinem Berliner Atelier interviewt wurde. Nicht nur die Jubiläumsausstellung zum 150. Geburtstag, die im Herbst 2019 im Museum Großauheim eröffnet wurde, griff die persönliche Aussage des Künstlers im Titel der Ausstellung auf, – auch die Kuratoren in Bern stellen ihre Präsentation unter dieses Motto.

Der weltweit geachtete Bildhauer August Gaul wurde 1869 in Großauheim geboren und starb 1921 in seiner Wahlheimat Berlin. Er war Vorstandsmitglied der Berliner Secession und der Nationalgalerie, bewegte sich im Kreis der künstlerischen und literarischen Avantgarde, war Freund und Mentor namhafter Protagonisten wie Ernst Barlach und Heinrich Zille und gilt als bedeutendster deutscher Tierbildner der Moderne. 1888 wechselte der knapp zwanzigjährige Gaul von Großauheim nach Berlin und besuchte die Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums, bevor es ihm gelang, an die Akademie der Künste und in den Kreis der Bildhauer um Reinhold Begas aufgenommen zu werden. Im Atelier von Begas war Gaul mit zwei Löwenbronzen an der Gestaltung des bedeutendsten deutschen Nationaldenkmals für Kaiser Wilhelm I. beteiligt, welches 1897 vor dem Berliner Stadtschloss errichtet wurde.

Der künstlerische Durchbruch gelang Gaul auf der dritten Ausstellung der Berliner Secession 1901 mit seiner Großen stehenden Löwin, einer damals unerhörten Variante auf das Motiv des machtsymbolisch-imperial aufgeladenen männlichen Löwen. Mit der lebensgroßen Löwin schuf August Gaul eines der bedeutendsten plastischen Werke zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts und wirkte mit der plastischen Geschlossenheit der Figur ohne jegliche Detailfülle und Repräsentationsgeste wegweisend auf die Bildhauerei der Moderne. In der Folge erhielt Gaul den Auftrag für einen monumentalen Steinlöwen in doppelter Lebensgröße, den er 1902/03 für den Verleger Rudolf Mosse (1843–1920) ausführte. Das Foto dazu, das die Städtischen Museen Hanau dem Kunstmuseum Bern zur Verfügung stellen, wird wandfüllend in der Schweizer Ausstellung gezeigt.

1969 im Zusammenhang mit einer Ausstellung zum 100. Geburtstag in der Sparkasse konnte die große Löwin von August Gaul von der Stadt Großauheim mit Unterstützung des Landes Hessen und einer sensationellen Spendenaktion von Großauheimer Bürgern aus dem Besitz der Berliner Industriellenfamilie Arnhold erworben werden. Nachdem die bedeutende Bronze erst auf dem Rochusplatz, dann im Parkgelände des Alten Friedhofs aufgestellt war, wurde sie nach Vandalismus im Museum Großauheim aufgestellt und ihr beim Umbau 2010 eine "Sala della Lionessa" geschaffen. Im Berlin der wilhelminischen Kaiserzeit um 1900 wuchs der Bedarf an Brunnenanlagen. Die Gruppe der Zwei sitzenden jungen Bären - und zugehörig ist eine große Bärin auf der Kugel – entstand 1903/04 als Unikat für einen monumentalen Grottenbrunnen im Arkadengang am Kaufhaus Wertheim in Berlin-Mitte. Gauls Tiergruppe überlebte den Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg und blieb vollständig erhalten. Die Große Bärin befindet sich bis heute in Berlin - die Jungen Bären gelangten mit Unterstützung der Familie Gaul nach Großauheim. Auch sie werden ab Juni in der Schweiz zu sehen sein.

Den Trompetenden Elefanten fertigte Gaul 1904/05 als Modell für einen Brunnen am Steinplatz in Berlin-Charlottenburg. Obwohl August Gaul den städtischen Wettbewerb 1905 gewonnen hatte, kam sein Entwurf für einen Elefantenbrunnen mit einer monumentalen Mittelfigur nicht zur Ausführung. Exotische Pelikane und Marabus am Beckenrand sowie der in weitem Bogen spritzende Elefant erschien der Kommission für eine Ehrung des Freiherrn vom und zum Stein nicht angemessen. Erst nach Gauls Tod wurde das Modell des Elefanten in kleiner Stückzahl in Bronze gegossen und konnte über die Familie Gaul für die Hanauer Sammlung erworben werden. Die Schauspielerin und Gattin des Galeristen und Verlegers Paul Cassirer Tilla Durieux schenkte der Familie Gaul den Esel "Fritze", der Gaul 1911 als Modell für die sogenannte Eselei, einer Serie von sechs Haltungsstudien des Esels diente. Vor dem Umbau des Museums Großauheim konnte das Gipsmodell des Ausschlagenden Esels erworben werden, der ebenso zur Ausstellung nach Bern geht. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges entstanden Lithografien und Zeichnungen von August Gaul für die von Paul Cassirer gegründete Zeitschrift "Kriegszeit" und "Der Bildermann", in der die Kriegsereignisse von den Sezessionisten künstlerisch und auch propagandistisch umgesetzt wurden. Entgegen seiner bisherigen Auffassung stellte Gaul die Kriegsgegner nun in symbolisierenden Tierfiguren dar. Nahezu unbekannt ist eine Darstellung von fliegenden Zeppelinen von August Gaul im Bestand der Städtischen Museen, die in Bern zusammen mit weiteren Hanauer Grafiken und Skizzenbüchern zu sehen sein wird.

Die Sammlung Zwillenberg
Die Sammlung des Ehepaares Hugo und Elise Zwillenberg, geborene Tietz, gelangte im Zuge der Exilgeschichte in die Schweiz. Ab 1900 hatte die jüdische Berliner Unternehmerfamilie Tietz mit dem Aufbau einer Kunstsammlung begonnen, zu der auch zahlreiche Werke von August Gaul gehörten. Hugo Zwillenberg trat nach seiner Heirat mit Elise Tietz 1919 in den Warenhauskonzern seines Schwiegervaters Oscar Tietz ein. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 wurde das Unternehmen zwangsverkauft und umbenannt in den Hertie-Konzern. Die Gaul-Sammlung konnte neben anderen Kunstwerken und Möbeln außer Landes gebracht werden und überdauerte den Krieg im Freihafen von Amsterdam, wohin die Familie 1939 flüchtete. Durch diesen Umstand und die Tatsache, dass die Familie stets darauf bedacht war, die rund 120 Werke beisammen zu lassen, erweist sich das Konvolut heute als eine der größten erhaltenen Gaul-Sammlungen neben Hanau und Leipzig. Aufgrund ihrer naturwissenschaftlichen Forschungen lebten die Geschwister Dr. Helga Zwillenberg (1930–2013) und Dr. Lutz Zwillenberg (1925–2011), welche die Zwillenberg-Stiftung ins Leben riefen, seit 1959 in Bern. Im Sommer 2013 übergab die Stiftung das Konvolut der Gaul-Werke dem Kunstmuseum Bern.

August Gaul in Großauheim
August Gaul gehört neben den Brüdern Grimm, dem Komponisten Paul Hindemith, dem Mitgründer des Roten-Kreuzes Louis Appia, der "Gerechten der Völker" Elisabeth Schmitz und dem Maler Moritz Daniel Oppenheim zu den großen Söhnen und Töchtern der Stadt. Die höchste Auszeichnung im Kulturleben Hanaus, die August-Gaul-Plakette, ist nach ihm benannt. Im 150. Geburtsjahr des Bildhauers 2019 wurde das Stadtteilschild von Großauheim mit dem Zusatz "Geburtsort von August Gaul" versehen, ein Denkmal zu Ehren des Künstlers nach Entwurf des Aachener Bildhauers Matthias Kohn auf dem neu gestalteten Rochusplatz errichtet und bis Herbst 2021 zum 100. Todestag wird ein August-Gaul-Pfad mit Corten-Stahlmotiven des Berliner Bildhauers Michael Otto realisiert. Aufgrund der Pandemie wird die Sonderausstellung "Weil es mich freut. Plastik und Grafik zum 150. Geburtstag" im Museum Großauheim noch einmal verlängert und wird nach der Öffnung der Hanauer Museen noch bis zum 30.01.2022 im Museum Großauheim zu sehen sein.

Foto: August Gauls stehende Löwin wird transportsicher verpackt, Foto: Städtische Museen Hanau


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