„Erinnern und Mahnen, ohne zu vergessen“

Klarinettist Nur Ben Shalom spielte während der Veranstaltung eine „Lebensmelodie“ aus seinem musikalischen Projekt. Dabei handelt es sich um jüdische Melodien, die in der Zeit von 1933 bis 1945 komponiert und gesungen wurden, häufig jedoch bereits in Vergessenheit gerieten.

Hanau
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Der 5. September erinnert in der Stadt Hanau an ein schreckliches Ereignis. Im Jahr 1942 wurden an diesem Tag 78 Jüdinnen und Juden aus Hanau und der näheren Umgebung in Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten deportiert.



Zum 80. Jahrestag dieser zweiten Deportation aus Hanau hatte die Stadt gemeinsam mit der Jüdischen Gemeinde Hanau sowie der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Hanau zu einer Gedenkveranstaltung am Hanauer Hauptbahnhof eingeladen. Mehr als 60 Personen hatten sich hierzu auf dem Vorplatz des Bahnhofs eingefunden.

"Heute vor 80 Jahren geschah von diesem Ort aus eines der dunkelsten Geschehen unserer Stadt- und Landesgeschichte. Nachdem bereits am 30. Mai 1942 jüdische Menschen aus Hanau und Umgebung vom Hanauer Hauptbahnhof in einen Zug der Reichsbahn steigen mussten, erfolgte eine zweite Deportation", sagte Stadtverordnetenvorsteherin Beate Funck in ihrer Begrüßungsrede. Dieses Verbrechen, so Funck weiter, passierte nicht im Geheimen, sondern offen und für alle sichtbar. "Der übrige Bahnverkehr lief einfach weiter."

Das Leid und der Schmerz, den die Betroffenen und ihre Familien empfinden mussten, sind unvorstellbar. Von Hanau aus wurden die Menschen zunächst nach Kassel gebracht. Von da aus transportierte man sie in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager, nach Majdanek, Sobibor, Theresienstadt, Kaunas, Treblinka und Auschwitz. Besonders erschreckend ist vor allem der Umstand, dass viele Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Hanau und des Umlandes dies einfach geschehen ließen, mitunter sogar einen Vorteil daraus zogen: "Die beispiellose Ausgrenzung, Entrechtung, Raub, Flucht, Misshandlung, Zwangsarbeit, Freitod und Ermordung begann 1933 mit der Machtübernahme Hitlers und seiner Schergen, getragen von der Bevölkerung. Nachbarsfamilien und Volksgenossen bereicherten sich an zurückgelassenen Wohnungen und Haushalten, bei Auktionen, waren aktiv wie passiv an der "Endlösung der Judenfrage" beteiligt. Nach 1945 wollte fast niemand etwas gewusst haben", betonte Funck.

Für die Gedenkveranstaltung hatten die Verantwortlichen ein Zitat der Holocaustüberlebenden Eva Pusztai-Bélané ausgewählt: "Ein Leben alleine ist nicht genug um davor zu mahnen, dass der Holocaust nie mehr vorkommen darf; dass ein Mensch den anderen verachtet oder unterdrückt, hasst, quält. Die Mahnungen vor Antisemitismus und Rassismus müssen weitergehen! Erinnern alleine reicht hierfür nicht." Dies war entsprechend auch der Anlass der Veranstaltung: "Es benötigt ein Erinnern und Mahnen, ohne zu vergessen. Ein Verdrängen oder gar Verharmlosen dürfen wir nicht zulassen. Ein derartiges, durch Hass und Misstrauen gesätes Leid darf sich nie wieder wiederholen. Hierzu müssen wir gemeinsam ständig wachsam sein, nicht schweigen", sagte Funck.

Zur Veranstaltung hatte Heinz Daume, Pfarrer im Ruhestand und evangelischer Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Hanau, einen besonderen Gast eingeladen. Der klassisch ausgebildete Klarinettist Nur Ben Shalom spielte nicht nur einige jüdische Stücke, sondern erzählte zudem auch die Geschichte seiner Familie. So war seine Großtante Salomea während des Holocaust von den Nationalsozialisten in einem Konzentrationslager ermordet worden. Vor ihrem Tod hatte sie einen zwölfseitigen Brief an ihre Nachkommen verfasst, der von einem Nachbar versteckt und später an die Nachfahren der Familie gesendet wurde. Daume las aus diesem Dokument die erste und die letzte Seite vor. Ein Zitat aus dem Brief hatte Nur Ben Shalom sein ganzes Leben lang umgetrieben: "Ihr sollt Rache nehmen."

Eine gewaltsame Rache sei für den Klarinettisten selbstverständlich nie in Frage gekommen. "Der Brief meiner Großtante hatte jedoch eine klare Botschaft. Er war nicht nur für uns, für ihre Familie in Tel Aviv geschrieben, sondern er richtete sich an alle Menschen. Ich hegte den Wunsch, dass möglichst alle Menschen hören können, was sie zu sagen hatte", so Nur Ben Shalom. Daher hat er das Projekt "Lebensmelodien" ins Leben gerufen. "Dabei werden jüdische Melodien aufgeführt, die in der Zeit von 1933 bis 1945 komponiert und gesungen wurden. Viele dieser Melodien sind in Vergessenheit geraten und erklingen nun wieder", so der Musiker. Eine solche Lebensmelodie spielte er auch für die Teilnehmenden der Gedenkveranstaltung.

Nachdem Rabbiner Shimon Großberg das traditionelle jüdische Gebet "El Male Rachamim" sprach, gingen die Anwesenden zu Gleis 9, von dem aus die Deportationen vom 30. Mai und 5. September 1942 stattfanden. An der dortigen Gedenk- und Erinnerungstafel legten Stadtrat Thomas Morlock und Stadtverordnetenvorsteherin Beate Funck zum Abschluss der Veranstaltung einen Kranz der Stadt Hanau nieder.

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Hatten zur Veranstaltung eingeladen: Oliver Dainow, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Hanau, Heinz Daume, evangelischer Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Hanau, Stadtverordnetenvorsteherin Beate Funck sowie Musiker Nur Ben Shalom (von links).

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Klarinettist Nur Ben Shalom spielte während der Veranstaltung eine „Lebensmelodie“ aus seinem musikalischen Projekt. Dabei handelt es sich um jüdische Melodien, die in der Zeit von 1933 bis 1945 komponiert und gesungen wurden, häufig jedoch bereits in Vergessenheit gerieten.


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