Kommentar: Die Mythen um den Impfstoff

Foto-Quelle: Kreispressestelle

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Der Impfstoff ist derzeit in aller Munde und leider noch in zu wenigen Körpern, um vor einer Corona-Infektion zu schützen. Im Main-Kinzig-Kreis sind die Impfzentren in Hanau und Gelnhausen bereits seit Mitte Dezember startklar. Geimpft wird dort aber frühestens ab dem 9. Februar, weil noch zu wenig Impfstoff da ist. Mobile Teams versorgen daher zunächst vor allem die Seniorenheime.


Angesichts der vielen Todesfälle in diesen Einrichtungen ist das natürlich völlig richtig. Auf lokaler Ebene kann man daher zumindest jetzt sagen: Der Main-Kinzig-Kreis scheint gut vorbereitet zu sein auf den Impfstart.

Diskutiert wird aber auch hier darüber, warum aktuell noch so wenige Impfdosen vorhanden sind. Deutschlandweit hat ein Auftritt der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), für Aufsehen gesorgt. Ihr Statement in der ZDF-Sendung Maybrit Illner (Link: https://www.zdf.de/politik/maybrit-illner) kurz zusammengefasst: Die Europäische Union war bei der Impfbestellung knauserig, hat zu wenig bestellt und deshalb haben die Pharmafirmen, in diesem Fall BioNTech, nicht ausreichend produziert. Die Aussage von Sascha Lobo, dass die EU erst im November 2020 beim Pharma-Unternehmen BioNTech bestellt habe, stimmt übrigens nur so halb. Die Verhandlungen wurden im September direkt nach Beginn der letzten Studienphase für den Impfstoff begonnen, das kann man hier nachlesen: https://investors.biontech.de/de/news-releases/news-release-details/pfizer-und-biontech-geben-potenzielle-liefervereinbarung-mit-der

Aber zurück zu Manuela Schwesig, ihre Formel lautet also: Mehr Bestellungen im Sommer 2020 hätten auch mehr Lieferungen im Januar nach sich gezogen und in Deutschland könnte schon jetzt mehr geimpft werden.

Mal ein Beispiel: Wenn ich heute ein Auto erfinde, das mit Luft fährt, habe ich morgen so viel (Risiko)-Kapital, dass ich übermorgen mit der Produktion beginnen kann. Und das mache ich natürlich unabhängig von jeglichen Bestellungen, weil ich ja weiß, dass sich um mein „Luft-Auto“ die ganz Welt reißen wird. Ich brauche nur genügend Lenkräder, Reifen und und und. Und jetzt ersetzen sie bitte das Auto durch den Impfstoff. Gut erklärt ist die Knappheit an Ressourcen in diesem Artikel: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/streit-um-den-ausbau-der-impfstoffproduktion-101.html. In diesem Beitrag wird auch aus einem Interview im Magazin „Spiegel“ mit BioNTech-Chef Uğur Şahin zitiert: „Es ist ja nicht so, als stünden überall in der Welt spezialisierte Fabriken ungenutzt herum, die von heute auf morgen Impfstoff in der nötigen Qualität herstellen könnten.“ Das Interview kann man hier für einen Euro (Probemonat) nachlesen, falls man kein Spiegel-Abo hat: https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/biontech-gruender-oezlem-tuereci-und-ugur-sahin-deutschland-wird-genug-impfstoff-bekommen-a-00000000-0002-0001-0000-000174691195 Beschränkt wird sich bei der Erwähnung des Interviews übrigens meist auf die Aussage, dass Şahin sich gewundert habe, dass die Europäische Union nicht mehr Impfdosen bei seinem Unternehmen bestellt habe (was Ministerpräsidentin Schwesig kritisierte). Das sagt er auch, er und seine Ehefrau Özlem Türeci, mit der er gemeinsam das Unternehmen gegründet hatte, sagen in diesem Interview aber nicht: Hätte die EU mehr bestellt, hätten wir auch mehr produziert beziehungsweise mehr produziere können und jetzt mehr geliefert.

Um es noch einmal etwas flapsig zu formulieren: Impfstoff ist das geilste Zeug, das es aktuell auf der Welt gibt. Da muss niemand mehr über Angebot und Nachfrage nachdenken, davon produziert man so viel, wie man nur kann, weil man weiß: Das Zeug geht weg wie warme Semmeln. Und Investoren schütten das Unternehmen mit Geld zu, weil alle daran mitverdienen wollen. Und nicht nur das: Risikokapital wird ja eigentlich da eingesetzt, wo auch nur eine kleine Perspektive auf eine Erfolgsgeschichte da ist. Şahin und Türeci werden daher noch viel mehr Geld als üblich erhalten haben, in der Hoffnung, dass sie als nächstes beispielsweise ein Mittel gegen Krebs entwickelt, woran sie ja bereits forschen. Zumal es, und das ist ja das Faszinierende dabei, auch noch einen Wettbewerb mit anderen Pharma-Unternehmen gibt. BioNTech wurde als Erstes zugelassen und hatte dann natürlich auch ein riesiges Interesse daran, so viel Impfstoff wie möglich zu verkaufen. Die Marktwirtschaft funktioniert also wunderbar.

Ich fasse bis hierin kurz zusammen: Die Impfknappheit liegt nicht an fehlenden Aufträgen, sondern am Mangel an Ressourcen und Produktionsstätten. Letzteres wird übrigens auch gerne diskutiert, der Vorwurf dabei: Man hätte viel früher damit beginnen müssen, weitere Produktionsmöglichkeiten zu schaffen. Neue Fabriken hätten sich seit dem Sommer 2020 natürlich nicht bauen lassen, die Umrüstung von bestehen Anlagen hätte vielleicht forciert werden müssen. In Marburg wurde das jetzt gemacht, die Planungen dafür begannen bereits im August 2020. „Es gibt kurzfristig nicht unbegrenzt Produktionskapazitäten und Anlagen“, sagt der Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Sebastian Dullien, in diesem hörenswerten Podcast: https://www.boeckler.de/de/podcasts-22421-War-die-Impfstoff-Strategie-alternativlos-30019.htm Er spart darin übrigens auch nicht an Kritik an der Impfstoffbeschaffung.

Was mir auch hier viel zu wenig beachtet wird, ist der Punkt des eingesetzten Fremdkapitals abseits der vielen hundert Millionen Euro, die die Pharma-Unternehmen für die Forschung von EU und Deutschland – ich sage eindeutig zurecht – erhalten haben. Wissen wir eigentlich, wer alles an der Impfstoffherstellung mitverdient und wissen wir, welche Interessen damit verfolgt werden? Bekannt ist, dass Tesla-Erfinder Elon Musk am deutschen Biotech-Unternehmen CureVac beteiligt ist. Das ist übrigens das Unternehmen, dass der ehemalige US-Präsident Donald Trump im März 2020 gleich komplett kaufen wollte. Und jetzt mag man sich wundern, aber hätte ich mir im vergangenen Jahr einen Einkäufer aussuchen können, der so viel Impfstoff wie möglich für mein Land holt, hätte ich mich für Trump entschieden. Egoistisch, skrupellos, einer, der über Leichen geht, um sein Ziel zu erreichen – so stelle ich mir ihn zumindest vor. Moral, Gesetze, Gewissen, Gerechtigkeit - all das wäre dann natürlich unberücksichtigt geblieben, mein Einwand ist daher natürlich ironisch zu verstehen. Und die oben beschriebenen Probleme hätte er freilich auch nicht auflösen können, aber so hat jetzt zumindest die USA all den Impfstoff für sich, der im Land produziert wird. Und bitte keine Diskussion über die Verstaatlichung solcher Unternehmen oder eine Verpflichtung, Lizenzen abgeben zu müssen: Wer glaubt, dass der Staat da flexibler und schneller agiert, grüßt mir bitte den Weihnachtsmann.

Daher Glückwunsch an alle geimpften Menschen in Amerika, das gilt auch für die bereits geimpften Menschen in Israel. Neid ist hier genauso wenig angebracht wie ein Wettbewerb. Die hohe Impfquote in Israel ist übrigens ziemlich einfach zu erklären: Es ist quasi das Test-Land von BioNTech, liefert unter anderem zahlreiche Daten an das Pharma-Unternehmen. Dass man sich da ein Land aussucht, das relativ klein ist und man schnell vorankommt, das Land zudem auf Datenschutz nicht ganz so viel wert legt, den Impfstoff wie die USA und Großbritannien früher zulässt, und – das soll gar nicht verschwiegen werden – auch noch gut zahlt, ist doch völlig verständlich. Kann man übrigens hier nachlesen: https://www.tagesschau.de/ausland/impfstoff-israel-biontech-101.html

Ein Land wird nun einmal zuerst die Herdenimmunität erreichen und ein Land wird – mit hoffentlich wenig Abstand - das Schlusslicht bilden. Dabei bleibt nur zu hoffen, dass bei dieser vermeintlichen „Impf-Rallye“ die armen Länder nicht vergessen werden. Und glauben wir nicht, dass sich diese Impfungen alle im Januar hätten abwickeln lassen können. Das wird dauern, möglicherweise länger als geplant. Von Mutationen will ich hier gar nicht anfangen. Für mich kam daher einer der besten Nachrichten dieser Tage von der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD): Bis Mitte Februar werden voraussichtlich alle Bewohner von Pflegeheimen die zweite Impfung erhalten haben. Dann enden hoffentlich die Nachrichten über die hohen Todeszahlen in diesen Einrichtungen. Wenn möglicherweise gravierende Fehler in dieser Corona-Pandemie gemacht wurden, kann man sie bis zum jetzigen Zeitpunkt - auch im Main-Kinzig-Kreis - eher beim Schutz dieser Einrichtungen und der allgemeinen Teststrategie suchen. Über die Impfstrategie lässt sich frühestens im Sommer urteilen.


Ihnen ist etwas Interessantes aufgefallen im Main-Kinzig-Kreis? Schreiben Sie uns an info@vorsprung-online.de


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