Brüder Grimm Festspiele: „Tartuffe“ überzeugt als kurzweilige Komödie

Fotocredit: Brüder Grimm Festspiele Hanau/Hendrix Nix

Theater
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Die zweite Premiere der Brüder Grimm Festspiele war Chefsache – im doppelten Wortsinn: Frank-Lorenz Engel begrüßte das Publikum im gut gefüllten Hanauer Amphitheater nicht nur als Intendant, sondern auch als Regisseur. In dieser Funktion, so gab er freimütig zu, sei er jetzt besonders aufgeregt. Deshalb fiel die Begrüßung am Samstagabend auch kurz aus und machte zügig Platz für den diesjährigen Beitrag der Kategorie „Grimms Zeitgenossen“.



Die Zuschauer erlebten mit „Tartuffe“ von Jean-Baptiste Molière eine Komödie, die zwar kurzweilig inszeniert ist und Spaß macht, aber auch der heutigen Gesellschaft einen kritischen Spiegel vorhält. In Hanau feierte man das Stück mit lang anhaltendem Applaus und stehenden Ovationen, und der Regisseur war sichtlich erleichtert.

Oma rechnet ab. Kaum geht es los, schon ist das Publikum mitten drin in einer familiären Krise. Madame Pernelle (kernig-bissig: Gisela Kraft) hat die Nase voll von ihrem Anhang, ihren Koffer gepackt und macht sich zum Abschied nochmal so richtig Luft: Überheblich seien sie alle, faul, dumm, verwöhnt, zu nichts zu gebrauchen. Kurzum: Was der lieben Familie gut zu Gesicht stehen würde, sei eins, nämlich Demut. Dieses Wort wird sich im Laufe des Stückes den Zuschauern ins Bewusstsein brennen und ist zweifellos der Begriff des Abends. Madame spricht es indes nicht selbst aus, sondern lässt ihre Zofe Flipotte (Anna Larissa Grosenick) auf ein Tablet drücken, so dass nach einem meditativen Gong eine sonore Männerstimme ertönt und „Demut“ in all seiner Wucht zu Gehör bringt. Diese Stimme gehört dem neuen Guru der Familie oder besser: eines Teils der Familie, denn die, die Madame da so ausgiebig beschimpft, glauben nicht an dessen spirituelle Fähigkeiten. Madame Pernelle und ihr Sohn Orgon (Christopher Krieg) hingegen sind von Guru Tartuffe (Dieter Gring) vollkommen hingerissen.

Doch Moment: Wie passen eine Komödie aus dem 17. Jahrhundert und ein modernes Tablet zusammen? Regisseur Engel hat den Schritt gewagt, die Übersetzung von Wolf Graf Baudissin (1756 – 1814) ins Hier und Jetzt zu katapultieren. Das gelingt unfallfrei und gibt der Komödie einen ganz eigenen Charme. Ein Guru, der Selfies macht und auf dem Smartphone spielt, Whatsapps, die für Aufregung sorgen, der Einsatz eines SEK-Kommandos – und das alles verknüpft mit der mehr als 200 Jahre alten Sprache. Dieser Kunstgriff hebt hervor, dass die Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens in einer Welt voll Geltungssucht und dem Streben nach Materiellem heute genau so aktuell ist wie 1669. Und auch die Figur des selbsternannten Gurus Tartuffe, der ein Blender und Hochstapler ist und seine ganz eigenen Ziele verfolgt, passt genau so gut ins 21. Jahrhundert. Ein Blick auf die Macht der Sozialen Medien genügt.

Doch zurück zum Bühnengeschehen: Nach Omas Abreise aus der schicken Stadtwohnung (Bühne: Hans Winkler) herrscht Ratlosigkeit bei der Familie: Sie ist beunruhigt über den starken Einfluss Tartuffes auf den Vater, fürchtet um ihr eigenes komfortables Leben in Wohlstand und Sorglosigkeit. Schwiegersohn in spe Valère (Maximilian Gehrlinger) möchte die versprochene Heirat mit der Tochter des Hauses, Mariane (Elena Berthold) unter Dach und Fach bringen und bittet ihren Onkel Cléante (Detlev Nyga) um Unterstützung. Die Pläne von Familienoberhaupt Orgon jedoch haben sich inzwischen geändert: Sein Versprechen, Mariane Valère zur Frau zu geben, bricht er und besteht darauf, dass seine Tochter Tartuffe heiratet. Zuvor jedoch wird das Publikum Zeuge der kompletten Verblendung Orgons und seiner Fixiertheit auf seinen Guru: Nach seiner Heimkehr von einer Geschäftsreise erkundigt er sich vor allem nach Tartuffe. Als Zofe Dorine (Sophie Göbel) ihm erzählt, dass seine Ehefrau während seiner Abwesenheit schwer erkrankt ist, interessiert ihn das überhaupt nicht, er fragt aber immer wieder nach Tartuffes Wohlergehen. Der hat es sich offensichtlich tatsächlich gut gehen lassen, während sein spiritueller Jünger außer Haus war – nun also soll er auch noch Schwiegersohn werden.

Gehorsam trifft Widerspruch

Orgons Tochter reagiert entsetzt auf die Pläne ihres Vaters, wagt jedoch nicht, sich dagegen aufzulehnen. Umso mehr Mut und Widerspruchsgeist hat hingegen ihre Zofe: Dorine lässt sich von ihrem Herrn nicht den Mund verbieten und treibt ihn mit ihren Widerworten fast zur Weißglut. Diese Szene ist überragend! Darstellerin Sophie Göbel brilliert in ihrer Rolle als furchtlose Zofe mit Stimme, Mimik und kraftvoller Körpersprache. Dass Orgon sich am Ende mühevoll zur berühmten Demut („Demut! Zum Donnerwetter! Demut!“) zwingen muss, nimmt man Christopher Krieg mühelos ab. Elena Berthold ist der perfekte Gegenpart als eingeschüchterte Tochter aus gutem Hause, die vor allem Folgsamkeit gelernt hat. Auch das Setting stimmt: Dorine reinigt scheinbar nebenbei den Gartenteich während die Vater-Tochter-Unterredung stattfindet. Durch diese beiden Parallelhandlungen entsteht Dynamik auf der Bühne, eine Energie, die das Publikum begeisterte und zum Szenenapplaus animierte. Aber auch Mariane bekommt von Dorine ihr Fett weg: Dass sie tatsächlich dem Wunsch ihres Vaters folgen und Tartuffe heiraten will, quittiert die Zofe mit Häme. Die dann folgende stürmische Unterredung zwischen Mariane und Valère verfolgt sie als stumme Zuschauerin (ebenfalls mit unglaublicher Bühnenpräsenz) und schreitet erst ein, als die beiden sich zu entzweien drohen. Sie bringt die Liebenden wieder zusammen und schärft ihnen ein, sich nur zum Schein Orgons Plänen zu fügen.

Tartuffe zeigt sein „Können“

Aber wo ist eigentlich der große Meister? Tartuffe bekommt seinen Auftritt mit allen Pauken und Trompeten: Seinem Status angemessen, erscheint er am obersten Punkt der Bühne, in fließendes Creme mit langem Mantel gekleidet, lange rote Locken, große Gesten. Nun lernt das Publikum auch Orgons Ehefrau Elmire (Judith Jakob) kennen: Sie trifft Tartuffe alleine, und er nutzt die Gelegenheit, ihr sehr unverblümt Avancen zu machen. Denen gibt sie zwar nicht nach, verfolgt aber ihre eigenen Ziele: Sie will ihn verpflichten, die Heirat von Mariane und Valère zu unterstützen, indem sie seinen Vorstoß bei ihr als verheirateter Frau nicht öffentlich macht. Leider hat ihr Sohn, der aufbrausende Damis (Dominik Penschek) die Szene belauscht und berichtet brühwarm Orgon davon. Er verspricht sich den sofortigen Rauswurf des Schmarotzers aus dem Haus Pernell, aber leider hat er die Rechnung ohne den listigen Tartuffe gemacht. Dieser gibt den grundehrlichen, demütigen Büßer („Die Wahrheit ist, dass ich nichts tauge“) und schafft es so, Orgon gegen seinen eigenen Sohn so aufzubringen, dass er ihn aus dem Haus wirft und enterbt. Womit wir beim Thema wären: Tartuffe hat sein Ziel erreicht, Orgon überschreibt ihm seinen kompletten Besitz. Unmittelbar vor der Pause wird mit einer feinsinnigen Kleinigkeit auf den neuen Machthaber im Hause hingewiesen: Ein Bühnenelement, an dem ein modernes Gemälde hängt, dreht sich, und auf der anderen Seite erscheint an seiner Stelle ein großes Porträtfoto von Tartuffe.

In der zweiten Hälfte versucht die Familie, das drohende Unheil abzuwenden: Cléante appelliert vergeblich an Tartuffe, doch der verweist nonchalant auf „eine höhere Macht“, die alles bestimme. Mariane fleht ihren Vater an, sie nicht an Tartuffe zu verschachern („Geben Sie ihm alles, Vater, nur nicht mich“), doch den entscheidenden Schritt geht am Ende Elmire. Als sie Orgon von Tartuffes frechem Anbaggern erzählt, glaubt er ihr nicht. Sie ist darüber zu Recht richtig sauer und überredet ihren Mann dazu, sich als in einer Kiste zu verstecken, während sie Tartuffe zum Schein verführt. Der eitle Scharlatan fühlt sich wie erwartet geschmeichelt von Elmires Ansinnen, will aber sofort Taten sehen. Elmire wartet verzweifelt auf das vereinbarte Klopfzeichen ihres Mannes in der Kiste, schickt Tartuffe, der schon dabei ist, sich auszuziehen, mit einer List fort und lässt Orgon aus der Kiste klettern (Sie süffisant: „Ach, Du kommst schon raus?“). Wie erhofft, schmeißt der verblendete Familienvater seinen Guru raus, doch der geht natürlich nicht ohne den großen Auftritt – ihm gehört schließlich nicht nur Orgons Hab und Gut, sondern er hat ihn auch mit geheimen Dokumenten in der Hand. Es scheint, als sei alles verloren. Ein Beamter des Königs, Herr Loyal (Helmut Potthoff), aber befreit ihn aus seiner misslichen Lage (ein Kunstgriff, den Molière bei der griechischen Tragödie entlieh. Hier renkt am Ende ein Gott wieder alles ein), ein Sondereinsatzkommando der Polizei (Polizist: Michael Berres) nimmt Tartuffe fest – der Zuschauer erfährt: Der Monarch und die Sicherheitskräfte hatten den Scharlatan schon länger im Blick. Das letzte Wort gebührt wiederum Oma: Sie ist zurückgekehrt und bedient noch einmal ihr Tablet. „Demut“ erschallt zum Entsetzen der Familie. Madame Pernelle freut sich über die entgeisterten Mienen: „Das war doch nur ein Scherz!“

Die Handlung mag auf den ersten Blick kompliziert aussehen, doch ist es Frank-Lorenz Engel gelungen, eine wirklich kurzweilige Komödie mit Tiefsinn auf die Bühne zu bringen, die keinerlei Längen hat. Ein weiterer Pluspunkt: Sie hat Spielfilmdauer. Die stimmigen Bühnen- und Ausstattungskonzepte schaffen für das Publikum das perfekte Bild einer reichen Familie im schicken Stadthaus. Das eingespielte Team Anke Küper und Kerstin Laackmann (Kostüme) und Wiebke Quenzel (Maskenbild) hat es geschafft, mit Schlichtheit und viel Liebe zum Detail Akzente zu setzen. Edle Stoffe, Schnitte, die Eleganz und das Können der Maßschneiderei zeigen – das Understatement der Reichen haben die Künstlerinnen in der Inszenierung perfekt herausgearbeitet.

Das Schauspielensemble selbst brilliert mit individuellen Stärken und einer Gesamtleistung, die vollkommen zu Recht das Publikum am Samstag begeisterte.

Fotocredit: Brüder Grimm Festspiele Hanau/Hendrix Nix


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